Spätestens im Jahr 2016 hat sich gezeigt, daß vernünftige, sachliche, nicht beleidigende, von Fakten und Logik geprägte Debatten im Internet – aber vielfach auch im echten Leben – nicht mehr möglich sind. Herkömmlichen Medien wird mißtraut (»Lügenpresse«), »postfaktische« Informationen aus zweifelhaften Facebook-Postings und Blogs werden für wahr gehalten (»Fakenews«, »Hoaxes«). Es werden Parolen statt Argumente ausgestauscht. Die Sicht von anderen wird nicht angehört, die eigenen Gewissheiten nicht kritisch hinterfragt. Sogar unter dem Realnamen wird gepöbelt und zu Straftaten aufgerufen, Menschenverachtendes geschrieben.

Die Schuld kann man sicherlich nicht allein Facebook oder Filterblasen geben. (Ich selbst habe zum Beispiel schon viele Jahre vor dieser aktuellen Problematik – also auch vor der weiten Verbreitung von Facebook und seinen Filterblasen – in Diskussionen mit Esoterikern, Wünschelruten- und Homöopathiegläubigen bemerkt, daß wissenschaftliche Methoden, Quellenanalyse, Fakten und Logik keine Rolle zu spielen scheinen, sondern eigene Wohlfühl-Gefühle und Hörensagen von Bekannten.)

Möglicherweise ist die Welt zu kompliziert geworden, Zeit zu knapp, die (zumindest gefühlte) Bedrohung der Lebensqualität zu groß, das Vertrauen in herkömmliche Medien und Politik durch diese selbst erschüttert worden; sodaß einfache – auch post- oder antifaktische – Erklärungen und Parolen beliebter, ja gar notwendig geworden sind? Das alles gab es wohl schon immer; aber (1) sind aus kleinen Gruppen von »Verschwörungstheoretikern« nun große geworden, oder (2) sind die wenigen lauter geworden, oder (3) waren es zuvor schon viele und sie sind nun durch das Internet und da speziell Facebook und Kommentarspalten sichtbarer geworden?

Wie kann man dagegen vorgehen? Schule und Bildung gehören dazu. Selbstkritik in und bessere Erklärungen durch Politik und Medien sind notwendig. Verbieten von Fakenews und Facebook, sowie der Aufbau eines Ministeriums für Wahrheit (»Miniwahr/Minitrue« – siehe George Orwells »1984«) sind sicher keine guten Ideen. Vor allem das Aufbrechen von Filterblasen, das Erkennen von (un-)seriösen Quellen und Hinterfragen von eigenen Überzeugungen sind ebenso gefordert wie ein anständiges, respektvolles, nicht aggressives Argumentieren und Zuhören. Da ist jeder Einzelne gefragt, seine Einstellungen kritisch zu betrachten und sich möglicherweise zu ändern.

Wie komme ich zu diesem Blogeintrag? Unter anderem durch diese Artikel, die ich in letzter Zeit gelesen habe:

Anna Sauerbrey schrieb am Jahresende 2016 im Tagesspiegel: Debattenkultur: 2016 hat gezeigt: Der Diskurs ist kaputt. Darin schreibt sie:

Die Krise des Diskurses beginnt nicht mit dem Facebook-Algorithmus und nicht mit den geschäftstüchtigen Jungprogrammierern auf dem Balkan, die falsche Nachrichten verbreiten. Sie beginnt auch nicht mit den populistischen Störsendern. Sie beginnt in dem Moment, in dem Individualisierung in Entgesellschaftung umschlägt; dem Moment, in dem wir anfangen, uns und unsere Perspektive als ausreichend zu empfinden, um die Welt in ihrer Gänze zu erfassen. Die Krise hat begonnen, als wir anfingen, uns selbst genug zu sein.

Jürgen Habermas träumte einst den Traum vom »herrschaftsfreien Diskurs«. Eine wichtige Bedingung für den idealen Diskurs sah er in der Gleichheit aller Teilnehmer. Diese Bedingung ist heute erfüllt. Es gibt praktisch keinen Unterschied mehr zwischen Publikum und Podium, politischen und wissenschaftlichen Teilnehmern und den Bürgern. Das Privileg des Wissens wurde geschreddert, zumindest scheinbar. Jeder hat Zugang zu Informationen. Und aus Informationen werden Argumente.

Doch die informationelle Souveränität und die Emanzipation der Gesprächsteilnehmer hat nicht zur Verbesserung des Diskurses geführt – im Gegenteil. Das neue Selbstbewusstsein der Teilnehmer ist so groß, dass sie den Diskurs gleich wieder verlassen haben.

[…]

Es braucht ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Gemeinschaft zum Verstehen der Welt. Als informationelle Einzelgänger sind wir blind. Wir brauchen die Perspektiven der anderen, um uns zu verständigen – und um die Welt zu verstehen.

Drei Tage später, nachdem eine Diskussion über den Begriff »Nafri« (für »Nordafrikaner« bzw. »Nordafrikanische Intensivtäter«) und Racial Profiling ausgebrochen ist, schrieb Johannes Schneider im Tagesspiegel: Streit um Racial Profiling in Köln: Wie bitte geht eine normale Debatte? Darin weierführende Links zum konkreten Thema.

Im November 2016 schrieb Florian Klenk im Falter über die Begegnung mit einem Mann, der ihn zuvor laut Kommentar auf Facebook anzünden wollte: Boris wollte mich verbrennen. Über einen eigentlich ganz normalen Familienvater, der aber durch seine Filterbubble auf Facebook quasi radikalisiert wurde. Ein Nachtrag aus dem Dezember zeigt die weitere Entwicklung des Mannes, nachdem er versucht, seine Filterblase aufzubrechen und sich vielfältiger zu informieren – leider auf Facebook notiert. (Normalerweise würde ich nicht auf Datenrake, Web-Monopolisierer und Zensor Facebook verlinken, aber der Nachtrag ist einfach zu lesenswert; am besten mit dem anonymisierenden Tor-Browser besuchen.)

Und wie macht das der Blogautor?

Ich halte mich bei Themen, von denen ich keine oder nicht viel Ahnung habe, in Diskussionen deutlich zurück. Nach Möglichkeit recherchiere ich recht umfangreich, bevor ich mir eine Meinung bilde. Das ist aber nicht immer möglich; das kostet ja auch viel Zeit und Mühe.

So kommt es, daß ich mich an vielen Diskussionen nicht groß beteilige und oft nur zuhöre (und nebenbei – wenn möglich und nicht störend oder gar unhöflich – auf Smartphone oder Computer Suchmaschinen bediene ). Werde ich dann gefragt, was ich davon halte, kann ich nur vorsichtig antworten, oft mit Pro- und Contra-Argumenten, und meistens unter dem Vorbehalt, daß ich nicht gut genug informiert bin, um mir eine abschließende Meinung zu bilden.

Bei Themen, wo ich mich auskenne, kann ich allerdings auch stundenlang energisch Vorträge halten – und auf Wunsch natürlich die Quellen nachreichen. (Was ich oft per E-Mail mache.) :-)